„Amusing Ourselves to Death“: Bildschirme als Sinnesorgan? [only in German]

Unzählige neue Reels jeden Tag, ein sich stetig erweiternder und inhaltlich wiederholender Netflix-Katalog, übertragene Politdiskussionen als ausgestrahltes Spektakel. Es scheint, wir werden überflutet von einem konstanten Strom an Entertainment. Man wundert sich: Vielleicht ist der Punkt erreicht, an welchem wir die Realität durch einen Bildschirm wahrnehmen, wo dieser uns als sechster Sinn dient.
Das ist der Zustand, den Neil Postman bereits 1985 in seinem Buch Amusing Ourselves To Death befürchtete. Eine Gesellschaft, die nicht gemäß George Orwell eine totalitäre Unterdrückung des Denkens ausübt, sondern nach Aldous Huxley die Medien umgarnt, welche ihre intellektuelle Selbstständigkeit einschränken. Wo Technologie zur Ideologie verkommt, ohne, dass wir es merken, und uns weitestgehend kontrolliert (Postman 1986: 157).
Unplausibel klingt das grundlegend nicht; wir sind eindeutig durch unsere Medien definiert, bedenkt man, wie rege diese unseren Alltag begleiten…aber ist das alles nicht etwas schwarzmalerisch? Abseits davon, dass Postman insbesondere eine Gesellschaft des Fernsehens diskutierte, wo wir mittlerweile längst X Schritte weiter sind, hin zum Internet und nun Generativer KI. Wie aktuell ist die Idee?
Der „typographische Verstand“
Kürzlich wurde auf Threads hitzig diskutiert (den genauen Beitrag finden wir leider nicht mehr, pardon), was denn die wichtigste Erfindung Deutschlands sei. Antworten gab es viele, vom MP3-Format hin zur…Bratwurst (ja, wirklich), aber die vielleicht wichtigste Errungenschaft fehlte: der moderne Buchdruck. 1440 rund um startete Johannes Gutenberg die wohl erste, große Medienrevolution der westlichen Welt. Es dauerte noch viele Jahre bis das Druckverfahren perfektioniert wurde und Literatur und Lesekompetenz allgemein zugänglich wurden, doch markiert dies die Geburtsstunde dessen, was Neil Postman als „typographic mind“ charakterisieren würde (Vgl. Postman 1986: 44).
Mit dem Buch war ein wichtiges Medium geschaffen und der kanadische Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan behauptete schließlich: „The medium is the message“ Gemeint ist, dass die Art und Weise, wie wir Inhalte verstehen daran gebunden ist, worüber diese kommuniziert werden. Sprich sollten wir eher einen Blick auf das Medium, als auf die Botschaft werfen. Jede neue Kommunikationstechnologie – ob Buch, Fernseher, ChatGPT und Co. – transformiert unsere Wahrnehmung.
„Wenn eine Technik, sei es von innen oder außen, in eine Kultur eingeführt wird und wenn sie dem einen oder anderen unserer Sinne ein neues Gesicht oder einen neuen Auftrieb gibt, dann verschiebt sich das gegenseitige Verhältnis aller unserer Sinne.“ (McLuhan 2011: 31)
Anders gesagt: Man denke an eine Gesellschaft zurück, in welcher Kommunikation die längste Zeit mündlich erfolgte. Wo das gesprochene Wort unser primärer Informationsgegenstand war, etwa im antiken Forum. Informationen müssten wohl kurz und bündig sein, um diese zuverlässig weiterzutragen, in Sprichworten steckt Weisheit und Diskurs ist Garant zum Erlang neuer öffentlicher Erkenntnisse. Dann kommt der Druck: Man muss sich einen großgesellschaftlichen Wandel bei derartigen Übergängen vorstellen, wird die Art und Weise, wie wir Wissen kultivieren in ihren Grundzügen erschüttert. Betreten wir diese Zukunft also einmal, wo das gesprochene durch das geschriebene Wort ersetzt wird. Was macht lesen mit uns? Postman stellt hierbei klar fest:
„From Erasmus in the sixteenth century to Elizabeth Eisenstein in the twentieth, almost every scholar who has grappled with the question of what reading does to one’s habits of mind has concluded that the process encourages rationality; that the sequential, propositional character of the written word fosters what Walter Ong calls the “analytic management of knowledge”.” (Postman 1986: 51)
Lesen – im Gegensatz zu Theater, Fernsehen, Social Media und dergleichen – ist ein aktiver Prozess und erfordert mitzudenken, eigens zu visualisieren, Argumentationen nachzuvollziehen. Im Gegensatz zu mündlicher Information, ist es außerdem ein solitärer Prozess. Verstehen wir einen Satz nicht, lesen wir ihn eben noch einmal – aber wer spult schon beim Film zurück, hat man einen Plotpunkt nicht verstanden? Nichts hieran ist sonderlich erstaunlich. Dass lesen toll für Bildung und Konzentration ist, bewerben wir zum einen seit Jahren, ist zum anderen aber auch bereits seit den Schultagen eingetrichtert. Gleichzeitig trauert man der verlorenen Kunst der Aufmerksamkeitsspanne hinterher – und darum geht es eigentlich. Postman stellt zuerst vor, wie eine typographische Gesellschaft aussah und was nach dem Fernseher passierte.
Sechs Stunden Wahlkampfsdebatte
Kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wo vielen die kurzen Snippets auf Social Media reichen, statt den langen Diskursen zu folgen, war aber für die typografische Gesellschaft gar nicht unüblich.
Postman greift hierfür zum berühmten Wahlkampf zwischen Abraham Lincoln und Stephen A. Douglas am 21. August 1858 in Illinois (Postman 1986: 44). Die beiden Kandidaten fanden sich auf einem Podium vor, debattierten vor den Massen und das mit hierfür abgemachten Zeiten: Eine Stunde würde Douglas brauchen, um sein Plädoyer vorzulegen, Lincoln stünden eineinhalb Stunden Antwortzeit zu, auf welche Douglas für weitere 30 Minuten eingehen dürfte. Ganz schon lang? Überhaupt nicht! 1854 sprach Douglas ganze drei Stunden und Lincoln überzeugte das Publikum zunächst zum Abendessen nach Hause zu gehen, bevor es weiter ging.
Postman argumentiert, dass derartige Debatten nur stattfinden konnten, da der typographische Verstand in der Natur der Sache besser darauf ausgerichtet ist, sich lange Zeit einer Sache zu widmen. Konzentrierte Arbeit.
Im postmodernen Leben haben wir weder Zeit noch die Aufmerksamkeitsfähigkeit, um sechs Stunden Politikdiskussion zu verfolgen und das schlägt sich auch in Medium sowie Botschaft wieder. Postman vergleicht die im Fernsehen ausgestrahlte Präsidentschaftsdebatte 1984: Fünf Minuten pro Fragestellung samt fünf Minuten für die Antwort, Werbepausen zwischendrin, eine Simplifizierung der politischen Syntax (Postman 1986: 97). Das kommt uns schon bekannter vor. Postman deckt auf: heutzutage simplifizieren wir. Mit dem Fernseher folgte die natürliche Transformation in eine Gesellschaft des Showbiz, wo Informationserhalt und politische Bildung gleichzeitig Spektakel und Unterhaltung darstellen. Der Verlust sei weitaus gravierender als der Entzug authentischer Information; vielmehr als das, verlieren wir die Grundlagen authentischer Informiertheit – und somit eröffnet sich eine Gesellschaftsform, in der Information und Ignoranz gleichgestellt werden können, wo Anti-Intellektualismus florieren könnte (Postman 1986: 107 f.). Gelungenes Beispiel sind etwa Fernsehdebatten mit Trump, wo dieser jedweden Bullsh*t verbreiten kann, gesetzt dem Fall, es überzeugt die persönliche Intuition und Überzeugung. Wie gesagt: Kein Orwell Big Brother, sondern Technologie, die narkotisiert – und wir nehmen es an (Postman 1986: 111).
Leben durch Bildschirme?
Entertainment, laut Postman, würde in einer bildschirmgetriebenen Welt die natürliche Darstellung aller Wahrnehmung und Erfahrung werden (Postman 1986: 87). Die Welt sehen wir hier durch einen Bildschirm. Im Zeitalter des Inifinite Scrollings eine erschreckend präzise Darstellung von Content und Konsum. Hierüber erfahren wir an vielen Stellen die Welt heutzutage, beobachten wir etwas Außergewöhnliches, zücken wir das Handy, statt es zu genießen / zu helfen / …
Der Vorwurf, Social Media sei eine sinnesbetäubende Droge der Massen, ist längst heiß und kritisch diskutiert (aber auch etwas abgekaut). Wir wissen, dass soziale Medien vielerlei Schäden anrichten können – privat und öffentlich beiderlei – und es entstehen bereits rege Gegenbewegungen, um mit analoge(re)n Utensilien die Aufmerksamkeit zurückzulenken. Ob in Form von handgeschriebenen Notizen, Plattenspielern oder Büchern. Ob das gegen die Verlockungen des Entertainments immunisiert? Unwahrscheinlich. Kurzum: An vielen Ecken adressieren wir das Problem, wirklich korrigieren können wir es allerdings auch nicht, zumal all diese Technologien auch ihre aktiven Vorteile bergen und aus unserem (Arbeits-)Leben schwerlich wegzudenken sind. Auch wir verfallen dem „Spektakel“:
„The spectacle is not a collection of images; rather, it is a social relationship between people that is meditated by images.” (1992: 12)
Im Sinne von „the medium is the message“, heißt das, dass wir gesamtgesellschaftlich nicht typographisch, sondern vermehrt über visuelle Medien kommunizieren und darüber unsere Wahrnehmung und Informationsgewinnung prägen. Wir senden uns Reels und Memes, Emojis und Selfies. Gelebte Erfahrung wird repräsentiert. Unsere Realität wird hierbei technologisch und die Technologie entfernt sich von der Realität (Debord 1992: 22). Im Alltag ist das 2010 das Pärchen gewesen, das zur Diashow einlud. „Hier sind Schatzi und ich am Stand, da ist Schatzi gerade baden (am Strand), hier hat Schatzi (am Strand) eine Muschel gefunden.“ 2025 sind das sich ewig ähnelnde Reels bei TikTok, Insta und Co. Egal wie: Real ist hieran nichts, nur eine Abbildung – und da setzt dann irgendwie die kognitive Dissonanz ein. Etwas sehen und gleichzeitig dran vorbeischauen.
In oralen und typographischen Gesellschaften sähe das wohl etwas anders aus. Die Beschreibung von Eindrücken: der angenehme Duft frischen Ciabattas, der die Seitengassen durchströmt, der italienische Kies unter den Birkenstocks – der Geschmack italienischen Meerwassers und die direkte Verbindung dazu, warum Nudeln beim Kochen womöglich so übermäßig gesalzen werden. Das spricht eine menschlichere Sensibilität an, denn Reisen sind zum Erleben da – in all ihren Eindrücken. Das fehlt allerdings. Nach Postman würde unser Leben selbst zu Diashow – und Social Media sowie ChatGPT und Co. haben bestenfalls einige Slides mehr dazugefügt.
KI als Medium?
GenAI ist hier ein seltsamer Sonderfall, ist das kein Medium, über welches wir akut kommunizieren. Vielmehr kommuniziert dieses mit uns – und die Botschaft ist dabei eine Replikation menschlichen Materials. Verändert diese Technologie unsere Gesellschaft zu dem, wovor es Postman graute? Denn in vielerlei Hinsicht ist GenAI die Zusammenführung seiner Kritik:
- Die Technologie mediiert soziale Interaktion so effektiv, dass es diese abzulösen weiß. Wir sprechen aktiv, tagtäglich, mit Maschinen.
- ChatGPT & Co. sind schnell. Noch schneller als das Fernsehen oder Social Media. Informationen erfolgen auf sofortige Nachfrage und die KI denkt für uns.
- LLMs sind textbasiert und doch derzeit noch vor einem Bildschirm. Typographisch einerseits, andererseits nicht.
Ob Postman nun übermäßig technophob war oder ob die Konsequenzen der Gesellschaftstransformation tatsächlich so schlimm sind wie von ihm beschrieben, bleibt abzuwarten. Das ist natürlich eine nuancierte Angelegenheit, wir aber können vielleicht zumindest eine abschließende persönliche Erfahrung einbringen.
GenAI als Sparringpartner
Letztes Jahr durften wir ein kleines, internes Experiment durchführen. Einer unserer Kunden beauftragte uns damit, ein neues Geschäftsmodell zu entwerfen – und wir fragten, ob wir dies in reger Zusammenarbeit mit unserem hauseigenen LLM Navar durchführen dürften. Eine Idee, für die der Kunde sich aufgeschlossen zeigte.
Zugewiesen wurden diesem Projekt insgesamt vier Leute; mit Navar wäre unser Team fünfköpfig. Die KI sollte uns unter anderem bei der Datenanalyse unterstützen (ohne Erfolge, übrigens, da mussten wir sofort selbst Hand anlegen) und vor allem bei der Erstellung von Konzepten. 500 an der Zahl binnen kürzester Zeit, dann auf 180 gekürzt und in Zusammenarbeit mit dem Kunden auf vier heruntergebrochen, die wir im Folgenden ausgestalten würde.
Navar assistiere uns auch bei der Vorstellung der Konzepte, indem es Lean Canvasses fertigte. Folien zur Kommunikation und Überprüfung der Modelle. Inwiefern gliedert sich das jetzt allerdings in das zentrale Thema dieses Beitrags ein?
Wie gesagt, auch für uns war das eine neue Erfahrung – und um dem Vertrauen unseres Kunden gerecht zu werden, war transparente Kommunikation eine Schlüsselvoraussetzung. Was die KI geleistet hat, wo wir Hand angelegt haben, etc. Aktuell hegen viele Leute weiterhin eine gewisse Skepsis gegenüber vielen KI-generierten Inhalten, was uns eine Obligation verleiht, die wir bestenfalls beibehalten: Wir kommunizieren das Medium und legen die Unterschiede zum Menschgemachten dar. Soziale Medien beispielsweise arbeiten bereits viel mit KI-Labeln, um anzugeben, dass etwas generativ erstellt wurde. Wir gehen hierbei ähnlich mit unserem Kunden um, auch um sicherzustellen, dass wir mit KI zusammenarbeiten und eigenständig entscheiden, statt diese für uns Arbeiten zu lassen.
Letzteres Szenario wäre nicht die Wahrnehmung durch einen Bildschirm, ein Abbild unserer Arbeit – man wäre der Bildschirm selbst. KI ist ein assistierendes Werkzeug, keine Universallösung, und als dieses müssen wir es realisieren. Hier liegt vielleicht auch der fundamentale Unterschied zu Postmans Fernsehdystopie. KI hat seine Unterhaltungszwecke – die aktuell auch bekanntlich kritisch diskutiert werden –, ist hierauf aber nicht beschränkt. Es verdaut unsere Realität anhand der eingespeisten Datensätze und repräsentiert anhand hiervon, ist hierauf aber nicht beschränkt; KI kann mehr als das.
Im Umkehrschluss ist sie sehr schwierig in Postmans Modell einzuordnen. Wir bleiben aber in Bezug auf GenAI bei diesem Ansatz: Ist das Medium die Botschaft, müssen wir das Medium kommunizieren, um den bestmöglichen Nutzen aus diesem zu ziehen und all seine Risiken vor Augen zu haben. Tun wir das, tragen wir vermutlich auch keinen Bildschirm als Brille und sehen die Welt, mit all ihrem technologischen Wandel, eigenständig. Vielleicht könnte GenAI sogar als letztendliches Ventil zum kritischen Denken führen, lehrt es uns anhand seiner Halluzinationen auch eins: Nicht alles glauben, was man sieht und liest.
Shout-out an die Innovator:innen, Vordenker:innen und Mitgestalter:innen, die dabei Verantwortung übernehmen:
🌍 Menschen, die KI (kritisch) mitgestalten:
On the local Stage:
- Zamina Ahmad – setzt sich für faire, diskriminierungsfreie KI ein und hinterfragt Machtstrukturen hinter Daten & Systemen
- Timo Wagner – Gründer von Studio y-si, die gerade eine GenAI Plattform für diversen und inklusiven Content um marginalisierte Communities entwickeln, um ihnen Sichtbarkeit zu geben und sie aus stereotypischen Darstellungen herauszulösen.
- Eva Gengler – Gründerin von feminist AI, mit dem Ziel, die Welt gerechter zu machen mit feministischer KI
On the Global Stage:
- Joy Buolamwini – Gründerin des Algorithmic Justice League, bekannt durch den Dokumentarfilm Coded Bias. Sie kämpft für Transparenz und Fairness in Gesichtserkennung und KI-Systemen.
- Meredith Whittaker – Präsidentin von Signal, Ex-Google und Mitorganisatorin des „Google Walkout“. Deckt kritisch auf, wie Tech-Konzerne mit KI umgehen – mit Blick auf Arbeitsrechte, Datenschutz und Machtverteilung.
- Kate Crawford – KI-Forscherin und Autorin von Atlas of AI. Zeigt auf, wie KI ökologische, politische und soziale Kosten hat – ein Muss für alle, die über "ethische KI" hinausdenken wollen.
- Rumman Chowdhury – Datenwissenschaftlerin und Gründerin von Parity Consulting, zuvor bei Twitter zuständig für Responsible AI. Sie bringt Ethik und technische Entwicklung zusammen – mit Fokus auf Umsetzbarkeit.
- Lorena Jaume-Palasí – Philosophin und Gründerin der Ethical Tech Society. Macht stark für Grundrechte im digitalen Raum, vor allem im europäischen Kontext.
Folgt ihnen, lasst den Kopf an und hinterfragt immer mal wieder kritisch: Sehe ich gerade die Welt mit eigenen Augen oder nur durch den Bildschirm? Und im Falle von Letzteren, ist es vielleicht Zeit, für einen Moment den Aus-Knopf zu betätigen, sich ein Buch zu schnappen und mit uns bei einem Glas Rotwein darüber zu diskutieren.
Cheers, auf die Zukunft! Denn nichts ist so beständig wie der Wandel.
Zum Weiterlesen:
- Debord, Guy: The Society of the Spectacle [1967]. New York: Zone Books 1992.
- McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typographischen Menschen [1962]. Hamburg: Gingko Press 2011.
- Postman, Neil: Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business [1985]. London: Heinemann 1986.